Der Volkstrauertag ist beklemmend aktuell
16. November 2008
Der Volkstrauertag ist nicht allein an der Vergangenheit orientiert, sondern hat auch eine tagesaktuelle Seite. Dies erklärte Ortsbürgermeister Mathias Schliemann anlässlich der Gedenkfeier am Sonntagvormittag vor dem Ehrenmal an der Weinährer Kirche. Fast täglich sei zu erleben, wie brüchig doch der Frieden ist, wie längst überwunden geglaubte Methoden der Kriegsführung plötzlich wieder auftreten und an die Barbarei vergangener Epochen erinnerten. Um so wichtiger sei es, dass die Kriegstoten, die auch in Weinähr zu beklagen waren, nicht in Vergessenheit geraten. Erfreut zeigte sich Schliemann über die Beteiligung Jugendlicher am Volkstrauertag. Lesen Sie hier die Rede des Ortsbürgermeisters im Wortlaut:
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich begrüße Sie alle ganz herzlich zur diesjährigen Gedenkfeier! Ganz besonders freue ich mich, dass auch in diesem Jahr wieder Jugendliche unserer Gemeinde an dieser Feierstunde teilnehmen. Mein besonderer Dank gilt unseren Ortsvereinen, die sich wie in jedem Jahr an dieser Feierstunde beteiligen und auch Artur Gilberg, der dieses Blumenbeet hier vor dem Denkmal schon einige Jahre pflegt und diesen Platz zu einer würdevollen „Stätte der Erinnerung“ macht.
Sehr geehrte Damen und Herren! Wie jedes Jahr – seit 1952 – treffen sich Weinährer Bürgerinnen und Bürger am Volkstrauertag hier am Denkmal, um eines Teils der deutschen Geschichte zu erinnern, die andere gern vergessen würden oder leugnen. Wir treffen uns und erinnern uns, während andere nicht einmal wahrnehmen, was wir hier tun. Wir erkämpfen uns eine Hoffnung, dass wir nicht vergeblich hoffen angesichts des nicht kleiner werdenden Elends um uns herum und in allen Teilen der Welt. Krieg, Terror, Gewalt, Folter und Unterdrückung, Macht und Ohnmacht, Not und Angst, das alles sind Worte für Zustände, mit denen viele Menschen dieser Erde jeden Tag leben müssen.
Die meisten Menschen wünschen sich nichts sehnlicher, als in Frieden leben zu können. Ganz gleich ob in Europa, Afrika oder Asien — niemand möchte, dass Eltern, Kinder oder Freunde in einem Krieg verwundet oder gar getötet werden. Für sie alle ist Frieden, wenn es keinen Krieg in ihrer Heimat, ihrem Land oder ihrer Stadt gibt. Für die einen ist Frieden, wenn sie nicht jeden Tag heftigen Streit zwischen den Eltern, den Geschwistern oder mit den Nachbarn erleben müssen. Andere sind über die Zerstörung der Umwelt empört und fordern einen Frieden der Menschen mit der Natur. „Hunger und Armut verhindern Frieden“, denken wieder andere. Und muss nicht jeder Mensch zuerst mit sich selbst ins Reine kommen, damit es Frieden geben kann? Hunger und Armut sind in vielen Ländern der Erde ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden. Die reichen Staaten und die dort lebenden Menschen müssen bereit sein, die Güter der Erde gerechter zu verteilen. Sonst wachsen Neid, Hass und Zorn. Alle Menschen haben das Recht auf eine faire Chance im Leben. Egal wo sie wohnen.
Das Anliegen des Volkstrauertages ist nicht allein vergangenheitsorientiert, sondern auch tagesaktuell. Fast täglich erleben wir neu, welch ein empfindliches, zerbrechliches Gut der Frieden ist. Machtgier und Hass, religiöser Fanatismus, Druck und Gegendruck — oft genügt nur ein Funke, um ein neues Feuer der Gewalt zu entfachen. Ganz gleich ob im Irak, in Palästina oder Israel. Das bereitet Sorge.
Die Art der Kriegsführung, die Behandlung von Gefangenen oder auch praktizierte Verhörmethoden erinnern an längst überwunden geglaubte Barbarei. Mühsam erkämpfte Konventionen und Regeln scheinen zu bröckeln. Gerade da, wo internationaler Terrorismus wahllos Menschen tötet, verletzt und erschreckt, vermissen wir längst jedes ethisch-moralische Tabu. Selbst Kinder werden zum Zwecke des Terrors missbraucht! Im Irak sprengte sich sogar letzte Woche ein 13-jähriges Mädchen in die Luft und riss fünf Menschen mit in den Tod!
Dreizehn Jahre! Ein Mädchen — so alt wie meine Tochter Louisa! Die Medien führen es uns täglich neu vor und geben uns das beklemmende Gefühl der Machtlosigkeit. Der Frieden ist aber nicht nur in der Tagesschau, in den TV-Reportagen aus den Krisengebieten und Unglücksherden der Welt in Gefahr. Der Frieden ist auch im Kleinen keine Selbstverständlichkeit, sondern er braucht Menschen, die ihn stiften — in den Familien, in Vereinen und Gruppen. Dort sind wir nicht machtlos. Die Impulse zu einem friedlichen Miteinander müssen vom Herzen und vom Kopf ausgehen: Innehalten, Gedenken, das eigene Verhalten hinterfragen ist dazu unerlässlich — der Volkstrauertag bietet diese Chance.
Wir wollen uns nichts vormachen: Wir alle sind keine Weltverbesserer! Wir können die Wunden dieser Welt nicht heilen, aber wir sind für diese Welt mitverantwortlich. Jeder von uns ein Stückchen. Mehr Achtung, mehr Verständnis, mehr Hilfsbereitschaft, mehr Verantwortung für den Mitmenschen — das sind Bausteine einer besseren Welt, die jeder von uns mit zusammentragen kann. Nur wer insofern Frieden mit seiner eigenen kleinen Welt schließt, darf vom Frieden in der großen Welt träumen.Ich denke, diese Maxime sollte nicht allein für den Volkstrauertag gelten sondern für jeden Tag. Dann war auch das Schicksal der zahllosen Opfer, von Krieg, Gewaltherrschaft, Vertreibung und politischer Willkür nicht vergeblich.
Ich zitiere den früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann: „Der Krieg ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis menschlichen Handelns. Auch der Frieden ist kein Naturgesetz — auch das haben wir erlebt. Ist er eine Illusion?“ Er ist es nicht! Nach zwei Weltkriegen und 60 Millionen Toten, haben uns die vergangenen Jahre gerade in Europa hoffnungsvolle Perspektiven eröffnet. So wächst heute Europa wieder zusammen, lässt Kriege unwahrscheinlich werden.
Zugleich machen uns jedoch neue Konflikte bewusst — in Europa wie darüber hinaus – dass durch politische und militärische Allmachtsphantasien und Gewaltbereitschaft die systematischen Menschenrechtsverletzungen, die religiöse Verfolgung, der Rassenwahn und der Völkerhass keineswegs verschwunden sind. Gewaltszenen aus anderen Ländern erschüttern uns – aber sie müssen auch Mahnung sein, alles zu tun, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen. Wir müssen uns bemühen, durch frühzeitige Erziehung zum friedlichen Zusammenleben, durch vielfältige Integrationsprojekte, durch intensive und gute Jugendarbeit, der Aus- und Abgrenzung den Boden zu entziehen. Das ist eine große Herausforderung, der wir uns stellen müssen, und eine ebenso große Chance für das friedliche Zusammenleben von Menschen aus vielen Ländern dieser Erde, die als Fremde, die wir heute Migranten nennen, unter uns leben.
Möge sich bei jedem Wort des Hasses, der Abneigung, des Ablehnens, ein Schild vor unser Gesicht erheben, auf dem steht: „Die würde des Menschen ist unantastbar!“ — Und auf dem nicht steht: „Die Würde der Deutschen ist unantastbar!“ Tun wir es nicht, fangen wir hier nicht damit an, dann züchten und unterstützen wir den Hass gegen andere, gegen fremde Menschen – und dann… wird alles wieder möglich. Nun wollen wir uns erinnern an die, die auf den Schlachtfeldern ihr Leben ließen, an die, die in Gefangenschaft gerieten und nicht mehr heimkehrten.
Wir gedenken der Menschen, die Opfer der Diktatur wurden, wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung oder nur, weil sie einer anderen Rasse angehörten. Wir gedenken der Toten, die bei Flucht und Vertreibung ihr Leben ließen, Wir gedenken der Opfer des Bombenkrieges in Deutschland und in aller Welt, Unser Erinnern richtet sich aber auch auf die, die Widerstand leisteten und ihre Courage mit dem Leben bezahlten. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung , um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchen. Wir trauern mit all denen, die Leid ertrugen und ertragen. Verneigen wir uns in Ehrfurcht und Dankbarkeit vor den Toten, die für uns ihr Leben ließen. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten! Die Namen der Weinährer Bürger, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben ließen, sind hier in die Gedenktafeln eingemeißelt! Sie werden in uns allen weiterleben. Sie waren Ehemänner, Familienväter, Tochter, Söhne, Brüder, Schwester, Enkel, Neffe oder Nichte. Und jeder von ihnen war ein Teil dieser Gemeinde. Bertold Brecht sagte einmal: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“
Damit genau das nicht geschieht, ist unser heutiges Gedenken an die Toten wichtig. Mit diesem Gedenken ehren wir sie. Das gemeinsame Gedenken ist aber auch für die Hinterbliebenen wichtig. Sie dürfen wir mit ihrem Schmerz, ihrem Verlust und ihrer Suche nach Antworten und Trost nicht allein lassen. Damit Ihre Namen nicht in Vergessenheit geraten, lesen Jona, Louisa und Nikolas die Namen derer vor, die für ihre Heimat und auch für uns, ihr Leben gaben oder bis heute vermisst sind.
Peter Born, Johann Kops, Heinrich Merten, Rudolf Born I, Fritz Körstges, Johann Mono, Rudolf Born II, Willi Lappas, Josef Mono, Johann Brentano, Kurt Licht, Richard Renner, Heinrich Brentano, Johann Linscheid, Gisbert Schmidt, Gangolf Brück, Heinrich Ludwig, Josef Schmitz, Otto Bücker, Christian Ludwig, Peter Schmitz, Heinrich Burgard Gottlieb Maul, Richard Schwamm, Heinrich Dörstel, Ernst Meier, Peter Sehl, Josef Dreis, Johannes Sabel, Wilhelm Send, Egidius Eberth, Karl Sabel, Alois Steudter, Heinrich Gilberg, Josef Scherer, Johann Winkler, Hubert Göbel, Peter Scherer, Willi Winkler, Johann Holl, Edmund Scherer, Bernhard Winkler, Heinrich Hombach, Johann Scherer, Josef Winkler, Anton Jung, Rolf Schlehstein, Heinrich Wolf, Franz Kops, Else Schlehstein, Peter Wolf.
Im Gedenken an all die, die für uns ihr Leben ließen, legen wir diesen Kranz nieder! Lassen Sie uns zum Abschluss dieser Gedenkfeier für die Toten der Weltkriege und für unsere Gemeinde das „Vater unser“ beten. Ich danke Ihnen für die Bereitschaft zum Zuhören und hoffe, etwas in Ihrem Innern angesprochen zu haben, was sie mit Mut und Kraft nach Außen zeigen und vertreten werden.“