„Wir haben a scheene Leich“
15. September 2008
War es Mord oder war es „nur“ fahrlässige Tötung, die zum Begräbnis der alten Weinährer Schule geführt hat? Diese provokante Frage stellte Bertold Arnold in einem „kritischen Prolog“ zum letzten Schulfest am Samstag. Fest stehe: Es gibt eine Leiche, „a scheene Leich“, die ordentlich herausgeputzt wurde für den letzten Tag.
Auf vielfachen Leserwunsch veröffentlichen wir hier den Wortlaut von Bertold Arnolds Rede:
„Martin Luther soll 1521 vor dem Reichstag von Worms, also vor dem Kaiser und den versammelten Größen des Reiches, angeblich den folgenden Satz gesagt haben: „Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“
Ich bin weder Lutheraner noch Papist. Mit anderen Worten: „Ich stehe hier; ich könnt’ auch anders!“ Wir feiern heute das letzte Schulfest. Ein ganz besonderes Fest. Feste soll man ja feiern, wie sie fallen. Doch bald fällt auch dieses Gebäude, die alte Schule von Weinähr, und begräbt unter ihren Trümmern so manche vielleicht gute, vielleicht schlechte Erinnerung an die eigene Kindheit und Jugend. Insofern ist es nicht nur ein Fest, sondern auch ein Begräbnis, zu dem wir uns heute hier versammelt haben.
Seit dem sog. „Sommermärchen“ von 2006 hat sich im deutschen Sprachschatz das „public viewing“ eingebürgert und durchgesetzt. Nun hat „public viewing“ im Englischen und vor allem im Amerikanischen nicht so sehr mit der Betrachtung mehr oder weniger behaarter Männerbeine zu tun, die einem Ball hinterher jagen. Public viewing meint vielmehr die öffentliche Aufbahrung und Präsentation einer Leiche, damit die Trauergemeinde würdig von ihr Abschied nehmen kann. In diesem Sinne begehen wir heute ein public viewing.
Wir haben eine Gemeinde und – vor allem: Wir haben eine Leiche, a scheene Leich; schön herausgeputzt für den heutigen Tag, sogar – wenn meine Sinne mich nicht täuschen – etwas geschminkt und leicht parfümiert. Doch wie bei jeder Leiche stellt sich die Frage nach der Todesursache! Fangen wir mit dem Schlimmsten an und fragen wir uns: War es Mord?
Mord im juristischen Sinne ist verknüpft mit bestimmten Tatmerkmalen. Ich nenne nur drei: Habgier, Heimtücke und Grausamkeit. Habgier ist – zumindest aus heutiger Sicht auf das Opfer – eher auszuschließen. Für den Vorwurf der Heimtücke fehlen eindeutige und stichhaltige Beweise. Bleibt die Grausamkeit. Doch mag auch bei dem empfindsamen Beobachter der jahrzehntelange schleichende Verfall des Objekts den Eindruck von Grausamkeit erwecken, so wollen wir doch nicht so weit gehen, den verantwortlichen Subjekten Grausamkeit zu unterstellen. Demnach können wir also Mord mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen.
Doch ebenso eindeutig scheint mir der Vorwurf der fahrlässigen Tötung in vollem Umfang zuzutreffen. Fahrlässig handelt, „wer die objektiv erforderliche und ihm auch persönlich mögliche und zumutbare Sorgfalt außer acht lässt und deshalb pflichtwidrig nicht voraussieht, dass er das (…) geschützte Rechtsgut verletzen könnte.“ (Brockhaus, 19. Aufl., Bd. 7, S. 66) Hier fehlte – nicht über Jahre, sondern über Jahrzehnte – ein Bewusstsein vom Ernst der Lage und ein klarer und entschlossener Wille zur Rettung des Patienten. Ob bei diesem bösen Spiel mit tödlichem Ausgang die Schlamperei größer als die Inkompetenz war oder umgekehrt, lässt sich im Rückblick wohl nicht mehr entscheiden. Selbst die in letzter Minute eingeleiteten Rettungs-, besser Wiederbelebungsversuche an dem Patienten waren meiner Ansicht nach eher durch Halbherzigkeit und Phlegma als durch Entschlossenheit und Kreativität geprägt.
Wer sich jetzt fragt, was redet der Depp, war nie in dieser Schule und macht so einen Bohei, dem muss ich sagen: Auch ich habe hier in dieser Schule einst die Schulbank gedrückt, wenn auch nicht lange, vielleicht ein paar Tage, höchstens ein, zwei Wochen. Doch unabhängig davon, ob die, die sich heute zum letzten Schulfest hier versammelt haben, jemals in dieser Schule Unterricht genossen haben, sei es als Schüler, sei es als Lehrer, unabhängig davon scheint es mir mehr als angebracht, dieses Fest, dieses Begräbnis nicht mit zwei lachenden, sondern zumindest mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu begehen. In diesem Sinne sage ich: Möge diese Ãœbung gelingen. Und ich füge hinzu: Auch ich will dazu beitragen“
Bertold Arnold Weinähr, 13. September 2008