Die Kriegstoten sind eine Mahnung an die Lebenden
16. November 2009
Wehrführer Horst Thomas und sein Stellvertreter Volker Salzwedel legten einen Kranznieder. Ortsbürgermeister Mathias Schliemann hielt die Gedenkrede.ÂÂ
An die Toten der beiden Weltkriege haben Weinährer Bürger während einer Gedenkfeier zum Volkstrauertag vor dem Ehrenmal an der Weinährer Kirche erinnert. Traditionell waren die Vertreter der Ortsvereine mit ihren Fahnen anwesend, die Gedenkrede hielt Ortsbürgermeister Mathias Schliemann, unterstützt von drei Jugendlichen des Dorfes, die die Namen der Toten verlasen.
Die Weinährer, die in den beiden Kriegen ihr Leben ließen, dürften nicht vergessen werden, sagte Schliemann. Ihr Tod sei eine Mahnung an die heute lebende Generation nicht nachzulassen in ihrer Wachsamkeit, damit Unrecht wie während der NS-Diktatur sich wiederholt. Angesichts mehr als 10.000 gewaltbereiter Rechtsradikaler in Deutschland sei es wichtig, sich zu erinnern und Fragen zu stellen, meinte der Ortschef. Schliemann wörtlich: „Erinnerung und persönliche Betroffenheit machen uns widerstandsfähig gegen menschenverachtende Ideologien. Geschichtslosigkeit macht wehrlos.“
Der Ortsbürgermeister rief aber auch zu Toleranz auf. Gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus müssten die Bürger entschieden vorgehen. Auch mit Blick auf die 3,5 Millionen in Deutschland lebenden Moslems, die überwiegend friedlich seien. Im weiteren Verlauf seiner Rede ging Schliemann auch auf das Schicksal von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg ein, auf die Beteiligung deutscher Soldaten an Auslandseinsätzen ein, aber auch auf die Sehnsucht der Menschen nach Frieden.
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Die Rede von Ortsbürgermeister Schliemann geben wir hier zum Nachlesen im Wortlaut wieder:
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„Sehr geehrte Damen und Herren,
wieder haben wir uns heute, 64 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, am Volkstrauertag am Denkmal hier vor der Kirche eingefunden, um der Opfer, des Leids und der Zerstörung zu gedenken,
die die beiden Weltkriege und die verbrecherische Unrechtsherrschaft der Nationalsozialisten über unser Volk gebracht haben.
Wir tun dies vor allem deshalb, damit die in den Stein gehauenen Namen hier am Denkmal und auf den Gräbern nicht zu leeren Chiffren erstarren, sondern in unseren Köpfen und Herzen lebendig bleiben: es waren unsere Opas, Väter, Ehemänner, Geschwister, Nachbarn und Freunde, die ihr Leben nicht leben durften und viel zu früh den Tod fanden.
An sie denken wir am heutigen Tage.
Unser Mitgefühl gehört auch den Angehörigen, vor allem den Ehefrauen und Müttern, denen damals ihr Leben zerstört worden ist.
Wir denken an alle, die lernen mussten, mit dem Schmerz des Erlebten und mit tragischen Verlusten weiter zu leben. Die lernen mussten, mit den schrecklichen Bildern und den grausamen Erfahrungen umzugehen.
Wir denken an die Toten der Bombennächte und wir hören die Schreie der Opfer aus den Vernichtungslagern.
Wir nehmen Anteil an ihrem Leben und Leiden und finden in der Erinnerung Trost.
Dieser Tag gehört der Erinnerung. Er gehört damit auch jenen, die sich erinnern können, die sich erinnern müssen.
Aus diesem Erinnern und Mitfühlen stellen wir uns aber auch die Frage: „Wie konnte das alles geschehen? Es waren nicht Schicksal oder Naturkatastrophen, die dazu führten, sondern es waren Menschen:
Hitler und seine Gefolgsleute, die die Gegebenheiten der Zeit für ihre Zwecke nutzten.
Ihre Ideologie, ihr Machtstreben und ihr Hass verführten und deformierten die Menschen und brachten Leid, Unrecht, Zerstörung, Gewalt und Unglück über sie.
Es gab aber nicht nur Verführte, sondern auch aktive Wasserträger, Steigbügelhalter und Mitläufer und solche, die sich auch mitschuldig machten, weil sie wegschauten, als es noch Zeit war. Und darin liegt die Mahnung der Toten an uns. Wir dürfen heute nicht wegschauen. Angesichts immer ungenierter auftretender rechtsradikaler Gruppierungen,
Angesichts über 10.000 gewaltbereiter Rechtsradikaler in der Bundesrepublik und der immer stärker auftretenden Forderung, doch endlich einen Schlussstrich zu ziehen und zu vergessen, ist es gerade wichtig, sich zu erinnern, sensibel zu sein und Fragen zu stellen.
Erinnerung und persönliche Betroffenheit machen uns widerstandsfähig gegen menschenverachtende Ideologien. Geschichtslosigkeit macht wehrlos.
Man ist den Argumenten, Unwahrheiten und Verdrehungen wehrlos ausgeliefert.
Nicht nur denen von rechts.
Auch wenn für die nach 1945 Geborenen das persönliche Erleben der Hitlerdiktatur fehlt, so sind die schlimmen Geschehnisse jener Zeit unser geschichtliches Erbe, sie sind Auftrag an uns Jüngere, Verantwortung für den Erhalt von Frieden und Freiheit zu übernehmen.
Es liegt an uns, hellwach zu sein, damit sich Derartiges nicht wiederholt.
Es darf nicht soweit kommen, dass ein Funke ausreicht um einen Flächenbrand auszulösen.
In unserem Land gibt es 3,5 Millionen Moslems, die hier ihre Heimat gefunden haben und die in ihrer überwältigenden Zahl friedlich mit uns zusammen leben wollen.
Wir müssen entschieden gegen jegliche Form von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz vorgehen und wir müssen die vielen noch abseits stehenden Mitbürger islamischen Glaubens einbeziehen.
Sie müssen vollwertige Bürger werden mit allen Rechten und Pflichten. Das bedeutet Toleranz gegenüber Andersdenkenden, das beinhaltet aber genauso ein Aufeinanderzugehen, die Suche nach Gemeinsamkeiten und letztlich bei aller Unterschiedlichkeit die Aufgeschlossenheit und Integrationswilligkeit der Menschen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,ÂÂ
Wir befinden uns gerade in einem Prozess des Generationenwechsels.
Das Gedicht, das uns Louisa zu eingangs vorlas, verfasste die deutsche Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz die von 1901 bis 1974 lebte.
Sie stand unter dem Eindruck der Kriegserlebnisse.
Doch die Menschen der Generation, die einen der beiden Kriege mit durchleben mussten, eben die Menschen, die sich erinnern können, sie werden von Jahr zu Jahr weniger.
Für viele von uns steht es heute glücklicherweise noch dahin. Und hoffentlich werden wir, unsere Kinder, unsere Enkel und unsere nachfolgenden Generationen diese grausamen Erfahrungen nie machen müssen.
Dieser Generationenwechsel ist der Grund, weshalb die Bedeutung des heutigen Tages immer mehr zunimmt. Der Volkstrauertag ist wichtig, ja er ist notwendig, als Tag gegen das Vergessen, als Tag des Innehaltens und der Rückschau, als Tag, an dem wir es zulassen sollten, dem Schmerz nachzuspüren, den Gewaltakte hinterlassen.
Wichtig ist der Volkstrauertag aber auch als Mahnung und als Perspektive. Als Auftrag für uns, zu erkennen, welchen Beitrag wir – jeder einzelne von uns – leisten kann zur Versöhnung, zur Verständigung, zur Toleranz und zum Frieden.
Ich selbst gehöre einer Generation an, die ihr Wissen aus wenigen Erzählungen und ansonsten aus Geschichtsbüchern hat. Der erste Weltkrieg liegt über 90, der zweite Weltkrieg über 60 Jahre zurück.
Und die, die noch von Ihren Erfahrungen, vom Erlebten erzählen können, sie werden von Jahr zu Jahr weniger.
Mein Großvater der seine besten Jahre im Krieg bzw. in russischer Gefangenschaft verbringen musste, erzählte nicht sehr viel von seinen Erlebnissen. Wenn er jedoch von der Zeit an der Front und von der Zeit als Kriegsgefangener in Russland erzählte, war ihm anzusehen wie sehr ihn das Erlebte und die furchtbaren Bilder noch immer beschäftigen.
Aber er überlebte und kehrte krank und um seine besten Jahre beraubt aus der Kriegsgefangenschaft zu seiner Familie zurück. Seine Heimat in Schlesien hat er nie wiedergesehen.
Meine Großmutter war 31 Jahre alt, als sie ohne ihren Mann mit drei kleinen Kindern und ihrer schwerkranken Mutter ihr Haus und ihre Heimat in Schlesien im März 1946 verlassen musste. Ohne die Gewissheit, was aus ihr und ihren Kindern wird und ohne die Gewissheit ihren Mann jemals wiederzusehen.
Was meine Großmutter, Urgroßmutter, Vater, Onkel und Tante auf der Flucht in eine ungewisse Zukunft erlebten, prägte sie für den Rest ihres Lebens.
Und sicherlich prägten ihre Erzählungen vom Krieg und von ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat, auch mein Leben!
Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre, stand das Bemühen um Frieden im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Diskussionen um den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing-Raketen gingen durch die Presse, wurden in Kabinettsrunden, aber auch in Wohnzimmern und an Stammtischen beraten. Für uns als Jugendliche im Vordergrund stand dabei das Beenden des Wettrüstens, die Abrüstung und der Ruf nach Frieden.
Wir waren tatsächlich bewegt vom Frieden und begeistert darüber, dass Hunderttausende dies bei den Friedensdemonstrationen in Bonn zum Ausdruck brachten.
Viele von denen, die damals für den Frieden demonstrierten waren aus tiefstem Herzen überzeugt, dass Weltfrieden machbar ist, machbar sein muss.
Die Realität – wir wissen es alle nur allzu gut – ist leider eine andere. Ãœber den ganzen Erdball verteilt gibt es zahlreiche Krisengebiete, Kriege und terroristische Anschläge, die ideologisch oder religiös begründet werden.
Es gibt unzählige Verfolgte und Flüchtlinge.
Derzeit ist allein die Bundeswehr mit rund 6600 Soldaten und Soldatinnen an Auslandseinsätzen beteiligt. Auch dort gibt es Verletzte und Tote, gibt es Belastungen und Bilder, die verarbeitet sein wollen.
Weltweit werden gegenwärtig mehr als 30 Kriege geführt.
Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf dieser Welt vertrieben, geschossen, gefoltert und getötet wird.
Darum lassen Sie uns heute ebenfalls an die Opfer dieser aktuellen Kriegshandlungen und Gewaltakte in aller Welt denken und in unser Gedenken die Bundeswehrsoldaten und zivilen Einsatzkräfte, die bei Auslandseinsätzen ums Leben gekommen sind, einschließen.
In Deutschland leben wir seit mehr als 60 Jahren in Frieden. Das müssen wir uns heute am Volkstrauertag in Erinnerung, in das Bewusstsein rufen und alles dafür tun, dieses nicht selbstverständliche Gut der kommenden Generation, unseren Kindern mit auf den Weg zu geben. Dazu sollten wir sie stärken, in ihrem Idealismus, in ihrer Offenheit und Toleranz. Wir sollten Vorbild sein, deutlich machen, wie wichtig der Respekt vor dem Anderen und das friedliche Miteinander sind.
Durch unsere heutige Gedenkstunde werden wir die Welt im Großen nicht verändern. Aber doch legen wir, durch das Gedenken an die Opfer von damals, alljährlich einen kleinen Baustein für das Fundament des Friedens dazu.
Durch die Erinnerung an die Opfer, die Krieg und Gewalt in der Geschichte gefordert haben und noch heute fordern, können wir uns unserer Verantwortung bewusst werden.
Der Volkstrauertag schärft den Sinn dafür, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, dass es im Gegenteil unerlässlich ist, Recht, Frieden und Freiheit immer wieder aufs Neue einzufordern.
In Jahren des Friedens wird der Schrecken des KriegesÂÂ
– durch die Anonymität,
– durch die zeitliche wie räumliche Entfernung zu einer abstrakten Zahl degradiert.
Um die Anonymität zu überwinden müssen wir den Toten ein Gesicht geben.
Wer waren die Toten? Was haben sie gefühlt, gemacht, gekonnt, gedacht?
Was waren Ihre Träume, ihre Wünsche, ihre Vorstellungen, ihr Leben?
Hier am Denkmal sind die 51 Namen der Weinährer in Stein gemeiselt, die ihr Leben in den beiden Weltkriegen verloren oder bis heute vermisst sind. 51 zerstörte Lebensläufe – nie erlebte Zukunft. Beispiele für die Millionen Opfer der Kriege.
Sie wurden ihrer Zukunft beraubt, wie die gesamte Menschheit beraubt wurde.
Damit die Weinährer Bürger, die in den beiden Weltkriegen gefallen sind oder bis heute vermisst bleiben, nie in Vergessenheit geraten, lesen jetzt Maren, Nicolas und Louisa ihre Namen vor.“