Schliemann: Demokratie und Frieden verteidigen
19. November 2007
Zu mehr Engagement der Bürgerinnen und Bürger im Kampf gegen den Rechtsradikalismus hat Ortsbürgermeister Mathias Schliemann in seiner Rede zum Volkstrauertag am Sonntag aufgerufen. „Das Böse kann nur gedeihen, weil die Gerechten die Hände in den Schoß legen“, zitierte Schliemann ein chinesisches Sprichwort. Es stimme ihn nachdenklich, wenn er vor und nach der Demonstration gegen Neonazis am Samstag in Nassau Sätze höre wie: „Das geht mich nichts an“, „Man sollte den Nazis gar keine Beachtung schenken oder „Da gehe ich nicht hin, das ist mir zu gefährlich“. Schliemann: „Auch vor 74 Jahren, als die Nazis die Macht ergriffen, wurden eben genau diese Ausreden vorgeschoben, und darum rufe ich Sie jetzt schon auf, kommende Veranstaltungen wie diese am gestrigen Samstag zu unterstützten und gegen den Rechtsradikalismus in diesem Land zu demonstrieren!“
Vor dem Ehrenmal an der Kirche hatten sich am Sonntagvormittag etwa 40 Weinährer versammelt, unter ihnen Mitglieder aller Ortsvereine mit ihren Fahnen und auch vier Jugendliche (Louisa und Lucas Schliemann, Jasmin Schmitt und Nicole Ries), die einen Liedtext von Herbert Grönemeyer zitierten: „Zieh Deinen Weg“ – ein Lied, das der Sänger für seine Kinder geschrieben hat. Nach den Reden legten Wehrführer Horst Thomas und Norbert Linscheid einen Kranz zu Ehren der Gefallenen Weinährer in den beiden Weltkriegen nieder. Das gemeinsame Vater Unser beschloss die Gedenkveranstaltung.
Das Thema Frieden stellte Mathias Schliemann in den Mittelpunkt seiner Rede. Der Frieden in der Welt sei zerbrechlich, wie die große Zahl von Kriegsschauplätzen zeige. Aber auch in Europa gelte es, die Erinnerung an die schrecklichen Folgen von Krieg wachzuhalten, dem Vergessen, ja der Verharmlosung entgegenzutreten. „Wir dürfen nicht abstumpfen gegenüber der Gewalt, die immer noch allgegenwärtig ist“, rief der Ortsbürgermeister. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belege, dass die Ausländerfeindlichkeit in unserer Gesellschaft konstant hoch und der nationale Chauvinismus zugenommen habe. Es gelte, „die Augen offen zu halten“ und Aufklärung zu betreiben und die Jugend gegen „politische Rattenfänger“ zu immunisieren. Im Dritten Reich hätten viel zu wenige Menschen Mut bewiesen und sich den Tätern entgegengestellt.
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Lesen Sie hier die Schliemann-Rede im Wortlaut:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich begrüße Sie alle ganz herzlich zur diesjährigen Gedenkfeier! Ganz besonders freue ich mich, dass auch in diesem Jahr wieder Jugendliche unserer Gemeinde an dieser Feierstunde nicht nur teilnehmen sondern sich auch aktiv beteiligen. Mein besonderer Dank gilt auch unseren Ortsvereinen, die sich wie in jedem Jahr an dieser Feierstunde beteiligen! Sehr verehrte Damen und Herren, „Es ist schön, in Frieden zu ruhen, aber es ist besser, in Frieden zu leben“. Dieses Zitat aus dem Besucherbuch einer Kriegsgräberstätte möchte ich zum Motto des heutigen Volkstrauertages machen. Wir, die wir in Frieden leben, gedenken heute der Menschen, die ihr Leben im Krieg verloren haben: vor vielen Jahrzehnten, vor einigen Jahren oder erst gestern. Denn irgendwo ist immer Krieg. Gerade diese Tatsache macht uns bewusst, dass der Volkstrauertag seine Berechtigung hat. Er ist notwendig und sinnvoll: Als Gedenktag für die Opfer beider Weltkriege, aber auch für die Opfer von Willkür, Gewalt, Unmenschlichkeit und Terror. Vielleicht fragen sich viele junge Menschen, was habe ich damit zu tun, das ist schon so lange her, der Krieg. Die Zahl derer, die sich noch aus eigenem Erleben an den Krieg erinnern, wird immer kleiner. Das ist einerseits gut so, denn es beweist, man kann in Europa friedlich leben. Die Gefahr, die erwächst, ist die Gefahr des Vergessens und der Verharmlosung. So wie Kriegsspiele am Computer in den Wohn- und Kinderzimmern die Grausamkeit der Kriege verniedlichen. Die Realität zeigt ein anderes Bild. Sie zeigt mit all den fürchterlichen Folgen, wie zerbrechlich der Friede in der Welt doch ist: im Irak, in Palästina oder Israel, in Afghanistan oder in afrikanischen Ländern. Die Art der Kriegsführung, die Behandlung von Gefangenen oder die praktizierten Verhörmethoden erinnern an längst überwunden geglaubte Barbarei. Mühsam erkämpfte Regeln bröckeln oder werden außer Acht gelassen. Vor allem dort, wo Terrorismus wahllos Menschen tötet. Die Medien führen es uns täglich vor und geben uns das beklemmende Gefühl der Machtlosigkeit. Umso wichtiger sind deshalb Orientierungspunkte, die uns helfen, wenigstens für uns Antworten zu finden. „Wir müssen lernen, unsere Konflikte zu lösen, ohne dem Gegner nach dem Leben zu trachten“, hat der Psychologe Alexander Mitscherlich einmal gesagt. Das bedeutet auch: Wir müssen aus der Vergangenheit lernen – aus der Vergangenheit unseres eigenen Landes ebenso wie aus der Weltgeschichte. Und was können wir als Einzelne tun? Ich meine, wir müssen den Frieden dort fördern und schützen, wo wir stehen – im Privatleben, im Beruf, in der Kommunalpolitik, eben da, wo es uns möglich ist. Und nach außen hin müssen wir wachsam bleiben, dürfen nicht abstumpfen gegenüber der Gewalt, die immer noch allgegenwärtig ist. Der Volkstrauertag ist wie kein anderer Tag ein Tag des Innehaltens, des Erinnerns und des Mitgefühls. Am Volkstrauertag drückt sich in besonderer Weise die Sehnsucht nach Frieden aus. Zugleich macht der Volkstrauertag aber auch deutlich, dass Frieden alles andere als selbstverständlich ist. Wenn Studien zeigen, dass in unserer Gesellschaft in allen Altersgruppen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß vorhanden sind, dann darf uns das nicht kalt lassen. „Die Ausländerfeindlichkeit ist konstant hoch, der nationale Chauvinismus hat zugenommen“, lautet das erschreckende Fazit der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bei solchen Tendenzen und Entwicklungen müssen wir die Augen offen halten. Wir dürfen nicht wegschauen, sondern müssen hinschauen, müssen Aufklärung betreiben und die Jugend gegen politische Rattenfänger immunisieren. Vor wenigen Tagen, am 09. November, haben wir der Reichsprogromnacht gedacht, der Opfer, die dieser Tag und der weitere Verlauf der Geschichte gefordert haben. Dieser Tag erinnert auch an die schweigende Mehrheit, die nicht eingegriffen hat. Es waren leider viel zu wenige, die in Deutschland Mut bewiesen und sich den Tätern entgegengestellt haben. Umso höher ist der Mut derer einzuschätzen, die eingegriffen haben. Viele dieser Menschen haben mit ihrem Leben dafür bezahlt, dass für sie ihre Werte nicht verhandelbar waren und sie vor dem Krieg, dem staatlichen Terror und dem Rassenwahn gewarnt haben. Wir, die im Schutz eines sicheren Rechtsstaates leben, sind auch dem Erbe dieser Menschen verpflichtet. An dieser Stelle danke ich all denen – auch aus unserer Gemeinde – die am gestrigen Samstag an der Kundgebung der „Allianz der Vernunft“ teilgenommen haben, um sich den Neo-Nazis entgegenzustellen und ihrer Verpflichtung gegenüber den Menschen, die Opfer der Naziherrschaft wurden, auf diese Weise nachgekommen sind! Ein Chinesisches Sprichwort sagt: Das Böse kann nur gedeihen, weil die Gerechten die Hände in den Schoß legen. Umso nachdenklicher stimmt mich, wenn ich nach bzw. vor der Veranstaltung der „Allianz der Vernunft“ höre: „ Das geht mich nichts an!“, „Man sollte den Nazis überhaupt keine Beachtung schenken!“ oder „Da gehe ich nicht hin, dass ist mir zu gefährlich“! Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch vor 74 Jahren, als die Nazis die Macht ergriffen, wurden eben genau diese Ausreden vorgeschoben und darum rufe ich Sie jetzt schon auf, kommende Veranstaltungen wie diese am gestrigen Samstag zu unterstützten und gegen den Rechtsradikalismus in diesem Land zu demonstrieren! Walter Bauer, Schriftsteller, der selbst Soldat im zweiten Weltkrieg war, schreibt in seiner „Postkarte an junge Menschen“: Gebt nicht nach, wie wir getan haben, Folgt den Verlockungen nicht, denkt nach, verweigert, verweigert, lehnt ab. Denkt nach, eh ihr Ja sagt, Glaubt nicht sofort, glaubt auch dem Einleuchtenden nicht, Glauben schläfert ein, und ihr sollt wach sein. Fangt mit einem weißen Blatt an, schreibt selber die ersten Worte, Lasst euch nichts vorschreiben. Hört gut zu, hört lange zu, aufmerksam, Glaubt der Vernunft nicht, der wir uns unterwarfen. Fangt mit der stummen Revolte des Nachdenkens an, prüft und verwerft. Bildet langsam das Ja eures Lebens. Lebt nicht wie wir. Lebt ohne Furcht. Bevor nun Jugendliche unserer Gemeinde einen Text vortragen, möchte ich Ihnen noch eine kurze Geschichte erzählen, die deutlich macht, wie gefährdet gerade unsere Kinder und Jugendlichen sind: Tim suchte Verbündete, doch seine Suche endete bedrohlich. Auf dem Bahnsteig in Recklinghausen sah er sieben Jungs mit weiten Cargohosen und Baseballkappen. Auf ihren Kapuzenpullis stand: „Fight the System“. Tim fühlte sich richtig bei ihnen, denn der 16-Jährige ist Punk, er trägt Tarnjacken in Armeefarben und hat seine Haare zu einem Irokesen geschnitten. „Fahrt ihr auch zur Demo nach Dortmund?“, fragte er. Dortmunds Bürger demonstrierten an diesem Tag gegen einen Nazi-Aufmarsch. „Ja“, antwortete einer der Jungs, „aber auf die andere Seite.“ Jetzt wurde Tim klar: Er war hier nicht an Antifaschisten geraten, sondern an Neonazis. Bevor sie handgreiflich wurden, konnte er sich in den Zug retten. Tims Geschichte bliebe eine Momentaufnahme, die Szene einer unglücklichen Verwechslung, stünde sie nicht für einen Trend: Die deutschen Rechtsextremen tarnen sich. Ãœber viele Jahre waren sie leicht erkennbar an Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel. Solche klassischen Neonazis gibt es noch immer – und daneben inzwischen auch „Autonome Nationalisten“, die auf ein Verwirrspiel setzen: Sie tragen die Klamotten der Linken, hören die Musik der Linken, verwenden die Symbole der Linken. Aber sie denken rechts und gelten als besonders gewaltbereit. Die „Autonomen Nationalisten“ buhlen vor allem um Jugendliche in Großstädten und Ballungsräumen. Sie verzichten auf den plumpen Brutalo-Look – Hauptsache, das rechte Weltbild stimmt: „Es spielt keine Rolle, welche Musik man hört, wie lang man seine Haare trägt oder welche Klamotten man anzieht“, schreiben die „Autonomen Nationalisten Wuppertal/Mettmann“ auf ihrer Internetseite. Und weiter: „Das heißt, dass wir uns dafür einsetzen, alle relevanten Teile der Jugend und der Gesellschaft zu unterwandern und für unsere Zwecke zu instrumentalisieren.„